Okay.
Also, ich habe mir gestern Abend "Lords of Chaos" noch einmal angeschaut. Dabei muss ich gestehen, dass man mir halt anmerkt, dass ich ziemlich genau zwanzig Jahre lang mich nur sehr marginal mit Metal-Musik identifiziert habe, wenn überhaupt. (Meine Schwerpunkte lagen in jener Zeit bei Klassik, Romantik und Spätromantik.) Deswegen bringe ich die nötige DISTANZIERTHEIT und Abgeklärtheit zu diesem Film mit.
Imperial Warcry, den ich wirklich kollegial sehr hochschätze, darf seine abweichenden Ansichten dazu haben, was überhaupt kein Problem für mich darstellt. Die Welt wäre langweilig, wenn alle die gleiche Meinung hätten! Aber ein kleiner Vergleich zu anderen Historienfilmen zeigt:
Bei "Cleopatra" mit Liz Taylor und Richard Burton entspricht - neben zahlreichen anderen Unstimmigkeiten - die Frisur nicht ansatzweise derjenigen der echten letzten Königin von Ägypten, welche in Wahrheit stets eine Aphrodite-Frisur im griechischen Stil mit Dutt trug. Kein einziger Darsteller von Gaius Iulius Caesar in jedwelchem Film hat auch nur ansatzweise irgendeine äussere Ähnlichkeit mit dem echten Caesar (dessen zweiter Nachname überdies nach dem heutigen Forschungsstand ungefähr "kaisar" ausgesprochen wurde).
Bei "Gladiator" mit Russell Crowe entspricht nun wirklich rein gar überhaupt nichts dem historischen und archäologischem Forschungsstand, nicht einmal ansatzweise die Gladiatorenkämpfe. Ausserdem ist das Drehbuch krumm und schief, so dass die ganze Handlung eigentlich überhaupt nicht funktioniert. Ein Grossteil davon wurde überdies von dem älteren Film "Der Untergang des Römischen Reiches" geklaut.
Bei "Ludwig II." von Luchino Visconti (1972) mit Helmut Berger und Romy Schneider entspricht das Treppenhaus, in welchem Richard Wagner sein "Siegfried-Idyll" privat für Cosima uraufführen liess, nicht dem echtem Treppenhaus, welches in Wahrheit noch heute existiert, aber sehr viel enger ist als das im Film gezeigte.
"Die Brücke von Arnheim" gilt neben "Platoon" als einer der herausragendsten Kriegsfilme der Filmgeschichte. Warum jedoch in einer Szene die Waffen-SS eine ungedeckte Offensive in schwarzer Ausgehuniform durchführt, bleibt eines der Mysterien des Filmemacher. Ausserdem hatte der Schauspieler Maximilian Schell nicht ansatzweise irgendeine Ähnlichkeit mit dem von ihm dargestellten SS-Obergruppenführer Wilhelm Bittrich.
Geht jetzt wegen all dieser falschen Details in Filmen die Welt unter? - Ein zu hundert Prozent authentischer Film ist sowieso komplett unmöglich, da ein Schauspieler am originalen Schauplatz zur originalen Zeit die originale Haltung des Darzustellenden einnehmen müsste.
Nun zu "Lords of Chaos", der wahrscheinlich ungefähr so nahe an die Wahrheit kommt, wie "The Doors" mit Val Kilmer aus dem Jahre 1991 über das Leben und Sterben von Jim Morrison, wo man sich ebenfalls so einige filmische Freiheiten und Interpretationen erlaubt hat, aber das Ergebnis nichtsdestotrotz von den meisten Filmfans des Jahres 1991 abgefeiert wurde.
Bei "Lords of Chaos" erstaunt den unvoreingenommenen Betrachter, dass der Regisseur Jonas Åkerlund nicht aus kommerziellen Erwägungen heraus einen wesentlich erfolgreicheren und "cooleren" Musikstil hineininterpretiert hat, z.B. irgendetwas in Richtung Nu Metal. Es wäre ja möglich gewesen, Euronymous & Co. so aussehen zu lassen, als ob deren Klänge bereits in Richtung der unsäglichen LIMP BIZKIT gegangen wären. Aber genau solche Verdrehungen wurden glücklicherweise vermieden!
Die überwiegende Anzahl der filmischen Details stimmt ebenfalls: Der Grieghallen-Produzent Pytten, der zweimal durch das Bild huscht, sieht so aus wie der richtige Pytten. Der Helvete-Laden sieht von aussen so aus wie der echte Helvete, sogar der Strassenname stimmt. (Ich frage mich ernsthaft, ob sie tatsächlich an der echten Location gedreht haben...)
Hingegen Varg Vikernes und Hellhammer dürfen sich persönlich unglücklich darüber fühlen, wie sie im Film dargestellt worden sind. Die beiden haben halt leider Pech gehabt, sorry. Doch wenn man alles aus der Perspektive eines freien "Fantasy"-Betrachters auf sich einwirken lässt, ist die Rolle des Varg Vikernes insgesamt nicht einmal allzu leidig gespielt.
Was an der ungefähren Rahmenhandlung von Bård "Faust" Eithuns Mord am Homosexuellen nicht stimmig sein sollte, können wohl nur Leute beantworten, die absolut detailversessen und besessen von dieser Thematik sind.
Zu Euronymous selber: Es gibt auch abweichende Dokus mit Aussagen von Zeitzeugen und engsten Jugendfreunden, die ein ganz anderes Bild von Øystein Aarseth als Privatperson zeichnen, welches den gängigen Klischees vollständig widerspricht.
Geneigte Leserinnen und Leser, für WEN ist "Lords of Chaos" nun eigentlich gemacht?
Falls Du Dich mit Black Metal ganz tief und ernsthaft identifizieren solltest, Deine Bude vollgekleistert mit MAYHEM und/oder BURZUM-Postern ist, Du absolut ALLES über die damalige norwegische Black Metal-Mafia weisst, jeden Fussabdruck von denen vergoldet und jeden Fingerabdruck eingerahmt hast - und falls es sich bei BLACK METAL an sich überhaupt um Dein heiliges (bzw. unheiliges) Goldenes Kalb handeln sollte, bei dem Du absolut keinen Spass verstehst, dann lass "Lords of Chaos" bleiben! Rühr' diesen Film bitte auf gar keinen Fall an! Du wirst Dich von A bis Z nur aufregen, hyperventilierend zusammenbrechen und man wird Dich in eine Intensivstation verfrachten und künstlich wiederbeleben müssen! FINGER WEG!!!
Falls Du hingegen ein distanzierter, entspannter und humorvoller Typ sein solltest, dem Black Metal scheissegal ist und der sich insgeheim sogar den Untergang allen Black Metals herbeiwünscht, heimlich dennoch allgemein alte Metal-Musik mag (angefangen mit MOTÖRHEAD, VENOM und BATHORY) und sich an einer verzerrenden, überdrehten, aber lustigen und unterhaltsamen kinematographischen Interpretation erfreuen kann, dann wird "Lords of Chaos" ein vergnüglicher KULTFILM für Dich sein!
Jedem seine Meinung, aber ich finde den Film SAUMÄSSIG GEIL!