Yggdrasills Tiere
Helheim ist auf dem Bild mit 'Infierno' bezeichnet, was auf jeden Fall eine christliche Irreführung ist, aber sonst ist das eine sehr schöne Abbildung von der Yggdrasil, der uralten Esche, die als der Weltenbaum die neun Welten um sich vereint. Weil die Welten mythologisch korrekt positioniert sind, und es sind auch die Tiere zu sehen, die nach der Überlieferung zu Yggdrasill, die auch Lärad oder Mimameid heisst, gehören.
Die Grimnismal nennt insgesamt fünf Hirsche, die an ihren Blättern fressen:
Ganz oben auf dem Blätterdach ist Eikthyrnir, der 'Eichdornige', der Name bezeichnet die Form seines Horngeweihs, von welchem der Tau nach unten in die Hwergelmir tropft (die Quelle im Zentrum von Niflheim, die daraus alle Flüsse mit Wasser speist). Und es gibt noch vier andere Hirsche, die an der Esche „krummhalsig nagen“ (also mehr an den Seiten des Baums). Da ist Dain, der 'Abgestorbene', Dwalin, der 'Zurückgegangene', Duneyr, der 'Ausgehöhlte' und Durathror, der 'Schlafende', die nach der Gylfaginning wiederum "an der Esche Ausschüssen weiden".
Bei den Wurzeln des Baums sind der Drache Nidhöggr und eine Gruppe von Schlangen beschrieben, die diese gemeinsam abnagen.
Zu beachten ist auch, dass sowohl im Altnordischen als auch im Altgermanischen die Begriffe Schlange, Drache und Wurm häufig synonym verwendet werden.
Da über den Sinn dieses Abfraßes am Baum spekuliert wird (manche vermuten sogar, dass die Tiere dem Baum bis hin zum Ragnarök angeblich schaden würden), habe ich mir den folgenden Vers aus der Grimnismal einmal genauer angesehen. In der vorhandenen, deutschen Übersetzung heisst es:
Die Esche Yggdrasil duldet Unbill
Mehr als Menschen wissen.
Der Hirsch weidet oben, hohl wird die Seite,
Unten nagt Nidhögg
Im dem altnordischen Text jedoch heisst es:
Ascr Yggdrasils drȳgir erfiði
meira, enn menn (um) viti
hjǫrtr bítr ofan, en á hliðo fúnnar
scerðir Niðhöggr neðan
'drȳgir' wird sich von 'drygja' ableiten, was für 'ausführen', 'ausrichten' oder 'aushalten' stehen kann, aber auch für 'fest halten', 'erhalten' oder 'stützen'.
'erfiði' bedeutet 'Arbeit' oder 'Mühe'.
'hliðo' hängt zusammen mit 'hlið', hier muss man aufpassen, weil dieser Wortstamm mehrere Bedeutungen haben kann. Hier bedeutet es 'Hang', 'Abhang', 'Neigung' oder 'Seite', und interessanterweise auch 'Öffnung', 'Tür' oder 'Tor'.
'fúnnar' setzt sich zusammen aus 'fún-a' für 'verwesen', 'verfaulen', und 'nar-' für 'Leiche' oder 'Toter' (in dem Fall 'Totes').
'vita' heisst 'beschauen', 'beobachten'.
Und 'meira' bedeutet 'grösser' oder 'mehr' (ich deute es in meiner gleich folgenden Übersetzung dieses Verses kontextbedingt auch im Sinn von 'grössere Zeitspanne' bzw. 'mehr Zeit').
Vorher ist noch zu sagen, dass abgestorbene Teile von Bäumen (zum Beispiel Seitenäste, bei denen dies öfter passieren kann), immer auch als mögliche Eintrittspforten für Krankheitserreger dienen. Bei Bäumen sind das vor allem Pilze, die sich in den Öffnungen von morsch werdendem Holz festsetzen, und vermehren, und einen Baum unter ungünstigen Umständen sogar zum Absterben bringen können. Deswegen wird in der Gartenkultur (die es auch schon im Altertum gab) Totholz an Bäumen grundsätzlich zurück geschnitten. Und auch das Wurzelwerk braucht diese Pflege, damit die Wurzel nicht fault (das machen natürlicherweise Regenwürmer im Boden, die totes Pflanzenmaterial fressen, und wieder umwandeln in nahrhafte Erde).
Den altnordischen Text übersetze ich nun wie folgt:
Die Esche Yggdrasil wird durch Arbeit erhalten
mehr (=länger), als der Mensch beobachten kann
Hirsche beissen oben, wenn Seiten (-äste) absterben
Nidhöggr beschneidet von unten her
Den Namen des Drachen würde ich von 'nīð', 'nīðr' oder 'nīðar' ableiten, was im Altnordischen für 'abwärts', 'unter', 'nieder' stehen kann, aber auch für 'Neumond', 'abnehmender Mond' oder 'absteigender Mond'. Und von 'hœgr', was (unter anderem) für 'vermögen' oder 'helfen' steht.
Der Mond hat ja verschiedene Zyklen: so gibt es neben dem synodischen Zyklus von Vollmond zu Vollmond auch seine Bahnhöhe am Himmel (im Vergleich zur scheinbaren Sonnenbahn), nach dem der Mond entweder auf- oder absteigend ist. In einem Gartenjournal habe ich hierzu folgende Informationen gefunden:
„...eine Beeinflussung auch der Pflanzen (sowie Menschen und Tiere) erfolgt, ist heute kaum mehr bestritten, aber oft schwer nachweisbar, da viele andere Faktoren, wie Gestirne, Tierkreis, Witterung etc. die Mondwirkung verstärken, mindern oder aufheben können. In der Antike schon wusste man um die Mondkräfte. Zunehmender Mond setzt Energie frei und fördert somit das Wachstum, also entwickelt er seine grössten Kräfte bei Vollmond. Bei abnehmendem Mond schwinden die Kräfte bis zum Minimum im Neumond.“
„Während des aufsteigenden Mondes, was wie gesagt nichts mit den Mondphasen zu tun hat, soll nach alter Überlieferung alles gepflanzt werden, was nach oben strebt (z.B. Stangenbohnen), während des absteigenden Mondes alles, was in die Tiefe gehen soll (kräftiges Wurzelwachstum).“
„...Nutzholz schlagen und Hecken schneiden erfolgt mit Vorteil während des absteigenden Mondes, da der Saftdruck jetzt geringer ist.“
Nach meiner Meinung bedeutet Nidhöggrs Name 'Helfer des absteigenden Mondes'. Da er, ebenso wie die Schlangen /Würmer die Wurzeln der Yggdrasil abnagt, von Auswuchs und Totholz befreit und so immer wieder für neues und kräftiges Wachstum von diesen sorgt. Das passt auch sehr gut zu den alten Schlangenkulten, die aus dem Neolithikum bekannt sind und bei denen die Schlange als Symbol für Wiederkehr und Erneuerung steht.
Nach der Grimnismal stammen alle Schlangen von Grafwitnir ab, und sie heissen Goinn, Moinn, Grabak, Grafwöllud, Ofnir und Swafnir. Ihre Namen sind nur noch schwer zu deuten, aber sinngemäss kommt es schon hin, weil man bei allen Begriffe findet, die in genau dieselbe Richtung verweisen. Grafwitnir jedoch lässt sich ableiten von 'grafa-' für 'graben' und von 'vitni', 'vitna' oder altgermanisch 'witnja' für 'Zeugnis', 'Zeuge', 'sehen', erblicken' oder 'wahrnehmen'. Ich würde das übersetzen mit 'die (oder der) das Graben gesehen hat', und da Drachen und Schlangen in der früheren Zeit wie gesagt nah beieinander gewesen sind, könnte das natürlich auch eine Kenning für Nidhöggr selbst sein.
Oben in der Krone des Baums sitzt der Adler ohne Namen. Zwischen seinen Augen sitzt der Habicht Vedrfölnir, und das Eichhörnchen Ratatoskr läuft die Yggdrasil herunter, um dem Nidhöggr bestimmte Botschaften des Adlers zu überbringen. Der Inhalt von diesen ist aber verloren gegangen, genauso wie der Name des Adlers.
Hierzu habe ich nun folgende Idee: ein Adler kann ja sehr weit sehen, und mit einem Habicht zwischen den Augen kann er noch weiter sehen, sogar bis zu den Sternen. Und weil beide Vögel symbolisch auch für Weisheit stehen, können sie zusammen aus den Sternbildern die Jahreszeit ablesen, bzw. den genauen Verlauf und die Witterung, die sich daraus ergibt. Der Adler sagt es dann dem Ratatoskr. Und dieser springt hinunter nach Niflheim, um es dem Nidhöggr weiterzusagen, der dadurch dann weiss, ob er mehr oder weniger nagen sollte. Deswegen sitzt der Adler ganz oben, da Niflheim ja ganz unten ist. Unten im Norden unter Yggdrasils Wurzeln, deswegen kann Nidhöggr den Himmel selbst nicht so genau sehen.
Vedrfölnirs Namen würde ich ableiten von altnordisch 'veðr' bzw. altgermanisch 'wedra' oder 'wedar', was jeweils 'Witterung' oder 'Wetter' bedeutet, und 'foljan', was für 'fühlen', 'empfinden' oder 'wahrnehmen' steht. 'Der die Witterung wahrnimmt' bedeutet er, meine o.g. Theorie über die Funktion der beiden Vögel ist also offenbar richtig.
Ratatoskrs Name ist schwierig zu übersetzen. Es gibt aber im Altgermanischen die Begriffe 'ratta-' für 'Ratte' und 'rat-' für 'nagen', sowie den Begriff 'tasko' für 'Eingeweide', 'Leib', 'Tasche', 'Reisetasche', 'setzen', 'stellen' oder 'legen'. Daher könnte man 'Ratatoskr' vielleicht frei übersetzen mit 'Nagetier, das etwas überbringt' (in dem Fall die Botschaften Vedrfölnirs bzw. des Adlers).
Und dann gibt es noch die Ziege Heidrun, die ebenso wie die Hirsche an den Auswüchsen der Yggdrasil weidet, ganz oben auf dem Blätterdach von Walhall. Aus ihrem Euter fliesst der Met für die Einherjer. Es gibt zwei Deutungen für ihren Namen, die vielleicht beide zutreffen: er wird sich herleiten von 'heiðr', was 'heiter', 'hell', oder 'klar' bedeutet, aber man vermutet auch, dass es ein ritueller Begriff für den Opfermet gewesen sei. Oder er kommt von 'Chaidruna', was im Fränkischen soviel wie 'die ein herrliches Geheimnis besitzt' bedeuten soll.
