Erwischt. Ich kann keine objektive Rezension zu Tribes of Caïn schreiben. Dafür kenne ich die Truppe zu gut und schätze deren Musik schon seit dem ersten CD-Rohling zu sehr. Was ich jedoch kann, ist zu beschreiben, welcher Schwall an Emotionen sich über einem erbricht, wenn "Retaliation" im heimischen Plattenschacht die Runden dreht.

Doch vorerst eine kleine Geschichtsstunde: Die Stämme Kains formierten sich im Jahre des Wasserläufers 1999. Seither geht der Fünfer unentwegt den schwarztodesstählernen Pfad des ersten irdischen Mörders. Nach "The First Born" und "Supra Absurdum" stellt "Retaliation" bereits das Drittwerk der Kainesen dar. Es ist also höchste Zeit, die Gretchenfrage zu beantworten, die sich mit Drittwerken jeweils stellt: Gold oder Blech, Diamant oder Feldspat?

Dissection, frühe Ulver, Watain, Opeth: Keine der Bands will so richtig als Vergleich herhalten, dennoch geht "Retaliation" ins Herz der besten Formationen aus den Sparten Black und Death Metal, welche ein Gespür für Melodie und eine Portion Progressivität haben. Meist sorgen alternierend ruchlose Hochtempoattacken und schwervergessliche Melodiebögen im fliessenden Übergang für genau den Kontrast, den man sich wünscht. Verschnaufpausen in der Gestalt von dezent progressiven Gitarrenläufen lockern die Kompositionen kurzfristig auf. Tempowechsel und technische Spielereien, setzen den Ohrwürmern im richtigen Moment einen Stich. Leichtverdauliche Kost darf man also nicht erwarten und dennoch wird man mit einigen Passagen schon nach dem ersten Durchlauf richtig warm. Dass dann noch lange nicht das Ende der Entdeckungsreise erreicht ist spricht für die Qualität der Liedstrukturen und das kompositorische Können der fünf Kantonszürcher. Zu entdecken gibt es eine unglaubliche Vielfalt an Ideen: Hier ein marktiefer Schrei, da eine Verdoppelung der Stimmgewalt, dort ein Break, da ein flinkes Riff und dann wieder die befreiende Melodie. Nicht zu vergessen sind dabei die drei Klavierstücke, die sich jeweils nach drei Kompositionen kontrastreich in den Mittelpunkt setzen. In ihrem plattenähnlichen Klang mit hinterlegtem Rauschen verbreiten sie die wohlige Atmosphäre eines Wohnzimmers, das durch flackerndes Kaminfeuer erwärmt wird. Damit setzen sie einen warmen Gegenpol zu den sonst eisigen Attacken.

Die auffallendsten Nummern sind wohl "Bringer of Disquiet", "Widuhudar" und "Hjaðningavíg". Während der "Bringer", wie er von der Truppe genannt wird, mit einer tiefgehenden Melodie verzückt, sind die anderen beiden Stücke eher schnell, roh und Black Metal-lastig. "Widuhudar" begeistert schlussendlich jedoch nicht nur dank dem marktiefen Gesang oder den rasenden Angriffen, sondern auch mit einem taktisch interessanten – weil nicht leicht durchschaubarem – Schlussteil. Wenn schliesslich bei "Hjaðningavíg" nach Raserei und Marschrhythmus hinter den schnellen Rhythmen eine dezente Melodie hervorsticht, werden neue Dimensionen der Wohlklänge erreicht, – wahrscheinlich der beste Tribes of Caïn Song seit jeher. Nichtsdestoweniger ist jedes Stück eine Entdeckungsreise für sich und klingt dennoch immer ganz ohrenscheinlich nach Tribes of Caïn.

In die Ohren fallend ist die sprachliche Vielfalt der Texte, welche der Sänger mit seiner vollen Kreischstimme äusserst glaubwürdig vorträgt. Unter anderem werden Textelemente von Charles Baudelaire aus "Les Fleurs du Mal" auf Französisch zum Besten gegeben oder Saga-Episoden in altnordisch vertont. Dazu kommen deutsche und englische Stellen, welche meist mehrschichtig daher kommen, aber schon beim ersten Mitlesen assoziativ wirken.

Nichts wurde bei "Retalation" ausser Acht gelassen. Das vor todbringender Energie nur so strotzende Werk ist in ein hoch differenziertes Klangewand gelegt worden. Für die Aufnahmen sind ToT-Records und Artifier Productions verantwortlich. Der Mix gelang Jochen Sachse (Pink Cream 69) in den HOFA Studios vorzüglich und das i-Tüpfelchen setzte Peter in de Betou (Opeth, Amon Amarth, Dark Funeral, Hypocrisy, ...) mit dem Mastering. An diesem Klangfabrikat gibt es wirklich praktisch gar nichts zu rütteln. Einzig die Klavierstücke von Lukas Stadelmann blühen auf Grund ihres leisen Klangs erst nach dem Drehen am Regler vollständig auf. Ansonsten darf niemand meckern: Die Gitarren klingen in den Melodien warm und in der Begleitung eisig kalt. Das Trommeln wirkt organisch und druckvoll, der Bass ist nicht nur bei den stillen Passagen zu hören. Den Hauch von Sänger Sven spürt man richtig gehend im Nacken – perfekt. Obendrauf kommt "Retaliation" in edlem mattbraunem Digipack und aussergewöhnlichem Deckblatt daher – für die entsprechende Optik ist also gesorgt.

Es gibt also nur eine Quintessenz für "Retaliation": Verbreitet die Kunde Kains!

Albuminfo

Punkte

 

5/5

Label

Fastbeast Entertainment

Veröffentlichung

12/2007

Format

CD

Land

Genre

Black Metal