Die Veröffentlichung von Calcaratas Debütalbum "Der müde Mensch" gleicht einem tiefen, schwermütigen Atemzug – einem Luftzug, der in die düsteren Sphären der menschlichen Seele hinabführt und uns mit einer seltsamen, unausweichlichen Schwere erfüllt. Wie aus dem Nichts taucht dieses Werk auf, als ob es schon immer in den Schatten der Nacht existierte, wartend, bis der Moment reif war, um aus den Abgründen hervorzukriechen. Das Duo Natt (Gitarre) und Yuggoth (Gesang, Bass, Schlagzeug) bleibt ebenso mysteriös wie ihre Musik – eine dunkle, schleichende Präsenz, die die Grenzen des Menschseins erahnen lässt. Über die beiden Musiker weiß man wenig, doch was man erfährt, trägt nur zur klammen Unheimlichkeit ihrer Schöpfung bei.
"Der müde Mensch" ist eine Manifestation dessen, was in uns allen schlummert – die Müdigkeit der Existenz, der endlose Marsch durch das Alltägliche, der stille Schrei des Herzens, das nach Ruhe verlangt, doch keine findet. Musikalisch zieht es den Hörer in einen Strudel aus atmosphärischem Black Metal, der mal sanft wie ein nächtlicher Wind um die Ohren säuselt und im nächsten Moment in einen Sturm aus peitschenden Gitarren und kalten, unbarmherzigen Riffs ausbricht. Natt und Yuggoth verweben auf schmerzhaft natürliche Weise Verzweiflung und zermürbende Schönheit.
Schon der Name der Band, Calcarata, weckt unbehagliche Assoziationen: Die Dorngespenstschrecke, ein scheues Insekt, das schwer und mühsam über den Boden schleppt – wie die Seele eines müden Menschen, die kaum mehr die Last des Lebens tragen kann. Diese Allegorie durchzieht das gesamte Album, das schleppend und doch beharrlich voranschreitet, ähnlich wie die endlose Bewegung einer Kreatur, die in sich die Bürde der Welt trägt. Vergleiche mit Tardigrada sind unvermeidlich, denn Calcarata gelingt es, eine ähnliche Mischung aus frostiger Isolation und introspektiver Tiefe zu erschaffen. Doch anders als bei ihren musikalischen Verwandten schwankt "Der müde Mensch" immer wieder an die Grenze zum Zerfall, ohne je vollständig auseinanderzubrechen. Stattdessen hängt die Musik wie ein Faden über einem bodenlosen Abgrund, ständig drohend, einzureißen, doch niemals loslassend.
Das Album bewegt sich in vier düsteren Welten: den Traumlanden, dem Reich der Toten, der Erde und der Seele. In jedem dieser Räume scheint der Hörer sich zu verlieren, als wäre es eine unaufhörliche Suche nach einem Ort, der niemals erreicht werden kann. Die klaren Vocals, die sporadisch durch die dicke Nebeldecke des Sounds brechen, wirken wie geisterhafte Stimmen aus einer anderen Dimension, während sich hier und da psychedelische Soli aus der Masse herauswinden – zitternd und schwankend, wie eine Riesen-Schnecke, die die Hügel des Geistes hinauf und wieder hinabgleitet.
Und genau darin liegt die tiefste Tragik dieses Albums: Es gibt keinen Ausweg. Wie der müde Mensch, der sein Leben in einem endlosen Kreislauf von Wachen und Schlafen verbringt, so führt uns auch Calcarata immer wieder zurück an denselben Punkt. Doch das Wissen, dass es keine Erlösung gibt, macht das Werk nur noch bedrückender. Jede Note, jede Passage fühlt sich an wie ein weiterer Schritt im Sumpf der eigenen Seele, und man beginnt sich zu fragen, ob man jemals wieder auftauchen wird.
Mit *"Der müde Mensch"* haben Natt und Yuggoth ein Werk geschaffen, das nicht nur musikalisch fesselt, sondern auch emotional in die Tiefe zieht. Es ist die vertonte Version einer Existenz, die an sich selbst zerbricht, ein Album, das den Hörer in einen Zustand der permanenten Müdigkeit versetzt – und ihn nicht mehr loslässt.
Albuminfo
Punkte |
4/5 |
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Label |
Naturmacht |
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Veröffentlichung |
09/2024 |
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Format |
CD |
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Land |
Deutschland | |
Genre |
Black Metal |
Tracklist
1. Calcarata
2. Morgenrot im Totental
3. Heilung
4. Der müde Mensch